music & audiation-BLOG
Es ist ein Prozess der Zeit braucht.
von Regula Schwarzenbach
Gespräch über die Ausbildung in Music Learning Theory zwischen Regula Schwarzenbach und Silvia Biferale
Silvia Biferale hat vor über 20 Jahren den Aufbau der MLT-Ausbildung in Rom sehr aktiv und engagiert mitgestaltet.
music & audiation hat das «Römer» Konzept im Wesentlichen übernommen, jedoch an die Schweizer Verhältnisse angepasst und in Zusammenarbeit mit dem Audiation Institute in Mailand weiterentwickelt.
Regula Schwarzenbach (RS): Hallo Silvia, ich freue mich sehr, dich hier bei uns zu haben. Du bist die Patin unserer MLT-Ausbildung in Uster. Vor über 20 Jahren hast du den Aufbau der MLT-Ausbildung in Rom sehr aktiv und engagiert mitgestaltet. Wir haben das «Römer» Konzept bei music & audiation im Wesentlichen übernommen, jedoch an die Schweizer Verhältnisse angepasst und in Zusammenarbeit mit dem Audiation Institute in Mailand weiterentwickelt. Lass uns über die besonderen Merkmale sprechen.
Silvia Biferale (SB): Vielen Dank, es ist mir eine grosse Freude, mich mit dir über die MLT-Ausbildung zu unterhalten, weil ich mich seit vielen Jahren damit beschäftige. Wir begannen mit Edwin E. Gordon in Italien, mit einer Ausbildung, die sich von dem unterschied, was damals in Amerika angeboten wurde. Es war die Zeit, in der Gordon sich ein wenig von der traditionellen amerikanischen MLT-Ausbildung entfernte, die bereits einen Weg eingeschlagen hatte, der ihm nicht gefiel. Im Gegensatz dazu war er angetan von der Art und Weise, wie die Ausbildung in Italien Gestalt annahm. Ihm gefiel die grosse Anzahl Stunden und die Offenheit für Themen, die in erster Linie das Wachstum der Teilnehmenden betreffen, um damit in der Folge das Wachstum der Schülerinnen und Schüler zu fördern und zu begleiten.
Es ist wahr, dass unsere Ausbildung anspruchsvoll ist und dass wir uns auch mit komplexen Themen auseinandersetzen. Dabei geht es nicht nur um musikalische Themen, die für sich genommen bereits einen beachtlichen theoretischen Korpus darstellen. Wir beschäftigen uns auch mit Themen, die eigentlich allen in der Musikpädagogik am Herzen liegen. Wir befassen uns zum Beispiel mit der Motivation oder mit der kindlichen Entwicklung, und wie man musikalisches Lernen innerhalb dieser Entwicklung begleiten kann. Es geht nicht darum, sich auf einem fernen Planeten niederzulassen, sondern immer wieder die Themen der Heranwachsenden aufzugreifen, zum Beispiel das Thema des sich verändernden Körpers.
RS: Edwin E. Gordon hat uns eine überaus reiche Bibliografie hinterlassen. Da kann man sich doch einfach darin vertiefen, warum ist es sinnvoll eine Ausbildung zu absolvieren?
SB: Wir glauben, dass es für diejenigen, die nach der Music Learning Theory unterrichten wollen, notwendig ist, in sie einzutauchen, um sie sich zu eigen zu machen. Das heisst, sie nicht nur als theoretisches Konzept zu lernen, sondern sie als eigene Erfahrung zu verinnerlichen. Um Musik auf diese besondere Art und Weise zu lernen und in anderen zu fördern, ist ein Prozess notwendig, der Zeit braucht.
RS: Zeit, um im Austausch mit den anderen Teilnehmenden vertieft über Fragen nachzudenken. Zum Beispiel, wie du bereits erwähnt hast, über Motivation zu sprechen. Wie ist meine eigene Motivation? Warum will ich Musik lernen? Warum habe ich diesen Prozess durchlaufen? Wo stehe ich heute, wo will ich hin? Was möchte ich meinen Schülerinnen und Schülern vermitteln? Wenn wir darüber nachgedacht haben, werden sich diese Erkenntnisse auf die Art und Weise auswirken, wie wir arbeiten.
SB: Auf jeden Fall, denn das, was mich selbst betrifft und was ich von mir kenne, kann ich auch im Anderen verstehen.
Ein anderes Thema, mit dem wir uns intensiv beschäftigen, ist das Zuhören. Die Music Learning Theory basiert auf dem Zuhören. Wir bieten reiche Erfahrungsgelegenheiten sich selbst zuzuhören, dem Mitmenschen zuzuhören, um diese Brücke zwischen dem Innen und dem Aussen zu bauen. Das muss ich erleben, darüber kann ich nicht nur in einem Buch lesen. Sonst werde ich mich im Klassenzimmer nicht wohl fühlen. Ich fühle mich deshalb nicht wohl, weil ich vielleicht diese Brücke nicht schaffe, weil ich nicht genug zuhöre und nicht gehört werde. Wir wissen, dass das eine wechselseitige Beziehung ist.
Ein weiteres, wertvolles Thema ist die Selbstwahrnehmung. Wir sprechen von einer Brücke, die Atem und Bewegung sein können. Die Erfahrung an mir selbst wird mir das Selbstvertrauen geben, mich im Klassenzimmer wohlzufühlen. Mit einer Klasse, die vielleicht unruhig ist, wird mir diese Erfahrung helfen, zu verstehen, wie ich unter Stress mit meinem Atem, meiner Bewegung, meiner Gestik, meinem Blick funktioniere. Oder eine Klasse mit Jugendlichen, die mir nicht zuhören. Sie hören mir nicht zu, aber höre ich ihnen zu? Denn genau das ist die Frage. Ich bin nicht Vermittlerin eines äusseren Gegenstandes. Ich stelle jedes Argument in eine Beziehung. Denn der Träger eines äusseren Objekts ist für Jugendliche uninteressant. Also muss ich die Erste sein, die zuhört. Die Erste, die ihren eigenen Atem kennt, die weiss, wie viel Bewegung dieser Beziehung helfen kann. Welche Bewegung passend ist, wohl wissend, dass wir alle, aber insbesondere Kinder und Jugendliche besser zuhören, nicht weniger gut, wenn wir uns bewegen.Tappen wir nicht in die "Schulfalle", die besagt, dass Stillsitzen, gut zuhören bedeutet. Auch in diesem Bereich muss ich viel Erfahrungen sammeln und viel Vertrauen aufbauen. Vertrauen in mich und in das, was ich tue, in die Kinder und in das, was sie tun. Vertrauen im Umgang mit den Erwartungen der Schulen, der Eltern, der ganzen Gesellschaft. In allem, was wir tun, brauchen wir viel Vertrauen.
Die Music Learning Theory ist eine Lerntheorie, keine Erziehungsmethode. Musikunterricht im Klassenzimmer ist etwas, das jede Lehrperson auf ihre eigene Art und Weise gestaltet, nach ihrem eigenen Stil und nach den gegebenen Bedürfnissen. Natürlich ist es anders, ob ich eine Klasse mit zwanzig Schülern habe oder eine Gruppe mit fünf, wenn sie drei Jahre alt sind oder vierzehn, wenn der Raum eng ist oder grosszügig Bewegung zulässt. Aber ich habe gelernt, ich habe verstanden, ich habe erfahren, was musikalische Lernprozesse sind. Das ist grundlegend.
RS: Gordon war brillant darin, den Wert der Stille für das Erlernen von Musik zu beschreiben.
SB: Ja, er hat bereits vor 50 Jahren Dinge gesagt, die die Neurowissenschaften heute bestätigen. Er sprach von der Stille als dem Ort, an dem sich das entwickeln kann, was nicht mehr oder noch nicht akustisch präsent ist. Der Ort, an dem die Sehnsucht entsteht, dass das, was verklungen ist, erneut erklingen soll. In dieser Stille entsteht das Denken. Das sagt auch die Psychoanalyse, die bestätigt, dass das ein Prozess ist. Es hat aber noch niemand gesagt, dass das auch für den musikalischen Lernprozess gilt.
RS: Wir leben in einer schnell lebigen Zeit, die Erwartungen an schnelle und hörbare Ergebnisse sind sehr hoch.
SB: Wir können lernen zu warten, wir können den Kindern so viel Zeit geben, wie sie brauchen. Vielleicht reagieren sie erst nach sechs Monaten. Gordon hat sogar gesagt, dass sie besser verinnerlichen, je später sie reagieren. Aber man muss dies wissen, beobachten und verstehen lernen. In der Ausbildung sammeln wir Erfahrungen, singen mit Kolleginnen und Kollegen, hören zu, sind still, studieren die wunderbare und reiche Theorie und tauschen das Gelernte aus.
R.S. Wie eingangs erwähnt, unterstützte Gordon in der Ausbildung in Rom, die grosse Anzahl Stunden und die Offenheit für Themen, die das Wachstum der Teilnehmenden unterstützen.
SB: Wir haben seit Beginn die Fächer Psychologie und Atem-Tonus-Ton® in den Ausbildungsplan eingefügt.
Ihr habt Richard Jucker, der mit seiner grossartigen Arbeit das Lernen unterstützt und die einzelnen Teilnehmenden und die Gruppen in ihren Lernprozessen begleitet.
Mit Atem-Tonus-Ton fügen wir die Arbeit mit dem Körper hinzu, die aus der Aufmerksamkeit auf das Sinnliche entsteht. Das heisst, diese Verbindung zwischen Atem, Bewegung, Stimme und Klang. Da dies die Aspekte sind, die am engsten mit der Audiation verbunden sind, gibt es eine direkte Verbindung zwischen ihnen. Es ist also auch in dieser Hinsicht eine sehr bereichernde Ausbildung.
Ich kann sagen, dass alle Menschen, die in diesen 22 Jahren die Ausbildung absolviert haben, die Zeit, die sie sich für sich und ihre Musik genommen haben, sehr geniessen konnten. Die Zeit, die es braucht, damit diese Art Musik zu hören, zu verstehen und zu gestalten auch für die Schülerinnen und Schüler oder für das Publikum erlebbar wird.
RS: Vielen Dank, Silvia!
SB: Ich danke dir!
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